Mythos: „Fehlerkultur existiert ohnehin in unserem Unternehmen.“
Na klar machen wir ja alle Fehler! Und ja, auch in deinem Unternehmen geschehen Fehler. Vermutlich ist es so wie in vielen Unternehmen, wo die Überzeugung herrscht, dass eine Fehlerkultur automatisch vorhanden ist, weil wir ja Menschen sind. Und da sind Sätze wie: „Natürlich machen wir Fehler, das gehört dazu!“ oder „Wir lernen doch alle ständig aus unseren Fehlern.“ an der Tagesordnung. Sie vermitteln den Eindruck, dass Fehler in der Organisation offen angenommen und als Lernchancen genutzt werden. Aber ist das wirklich der Fall? Leider Nein.
Was ist Fehlerkultur?
Die „Idee“, es gäbe doch immer eine Fehlerkultur, basiert auf der Vorstellung, dass Fehler von Natur aus einen festen Platz im Unternehmensalltag haben. Doch die Realität sieht oft anders aus. In vielen Unternehmen existiert zwar eine gewisse Offenheit gegenüber Fehlern auf der Oberfläche, aber wenn man genauer hinschaut, zeigt sich oft ein völlig anderes Bild. Viel häufiger ist es so:
- Man ist von Fehlern genervt, weil sie Zeit kosten und teure Folgen haben können.
- Führungskräfte suchen Schuldige, anstatt zu helfen.
- Es erfolgt keine Hilfestellung vorab.
- Ziele sind nicht klar formuliert.
- Fachwissen fehlt und dennoch gibt es Erwartungen an Mitarbeiter.
- Manche Kollegen freuen sich sogar, wenn andere Fehler machen, weil sie dann besser aussehen.
- Mitarbeiter befürchten, durch Fehler ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren und vertuschen diese.
- Statt eines Debriefings oder einer Supervision gibt es schlimme Konsequenzen wie Abmahnungen oder Kündigungen.
Die Illusion der Fehlerkultur: Oberflächlichkeit vs. Realität
Fehler werden vertuscht, minimiert oder gar auf andere abgewälzt, um besser dazustehen. Mitarbeiter schämen sich und sind enttäuscht von sich selbst, weshalb sie sich ihre Fehler schon selbst nicht eingestehen. Diese Verhaltensweisen haben so ziemlich gar nichts mit einer echten Fehlerkultur zu tun. Dennoch geben sich viele Unternehmen ernsthaft Mühe, den Mythos aufrechtzuerhalten. Sie fokussieren auf Programme zur Fehlerkultur (z.B. Reflective oder Confluence), anstatt erst einmal eine tiefgreifende Veränderung im täglichen Verhalten und in den Führungsstrukturen vorzunehmen.
Die Rolle von Führungskräften bei der Etablierung einer Fehlerkultur
Wenn beispielsweise die Führungskraft keine Möglichkeiten zur tieferen Reflexion und dem Verstehen der zugrundeliegenden Dynamiken gibt, dann bleibt das Thema trotz Analyse oft oberflächlich und wird nicht in das Wesen der Organisation integriert. Fehlerkultur ist nämlich sehr viel mehr als nur die Akzeptanz, dass Fehler passieren. Vielmehr geht es um die Bereitschaft und den Willen, Fehler als Lernquelle zu begreifen und sich mit den physiologischen Prozessen zu befassen, die beim Umlernen zu einer neuen echten Fehlerkultur nötig sind.
Echte Fehlerkultur ist die gelebte Fähigkeit, offen und konstruktiv mit Fehlern umzugehen. Wenn du Fehler als unvermeidbaren Teil deines Arbeitsalltags akzeptieren und sie als wertvolle Lernquelle zu nutzen vermagst, kannst du das auch für deine Mitarbeitenden ausleben. Das bedeutet, Fehler zulassen und sie als Impuls für persönliches und organisatorisches Wachstum erkennen und nutzen. Nur in einer echten gelebten Fehlerkultur entsteht Raum, in dem Mitarbeiter sich sicher fühlen und ihre Fehler zugeben – ohne Angst vor Sanktionen oder öffentlicher Schande.
Fehlerkultur beginnt mit der Erkenntnis und Anerkennung, dass Innovations- und Lernprozessen nur dann existieren, wenn Fehler ein natürlicher Bestandteil sind. Lernen geschieht nur, wenn Mitarbeiter und Führungskräfte verstehen, dass Fehler sozusagen sogar der Stoff sind, aus dem Erkenntnis erwächst. Dabei ist diese Akzeptanz nur der erste Schritt. Entscheidend ist, wie du als Chef in deinem Unternehmen nach einem Fehler reagierst. Mal Hand aufs Herz: Suchst du nach dem „Schuldigen“? Oder steht in deinem Unternehmen die Frage im Mittelpunkt, was dieser Fehler an Lernpotenzial hat. Selbst wenn es nur eine Flüchtigkeitsfehler ist?
Hier kommt die Theorie U von Otto Scharmer ins Spiel, die uns eine tiefere Perspektive auf Fehlerkultur ermöglicht.
Theorie U: Warum der Umgang mit Fehlern Zeit und Reflexion erfordert
Otto Scharmer beschreibt in seiner Theorie U einen Prozess des Wandels, der von einer Abwärtsbewegung des Loslassens und des Innehaltens geprägt ist, gefolgt von einer Aufwärtsbewegung der Erneuerung und des Handelns. Die entscheidende Erkenntnis aus Scharmers Theorie für den Umgang mit Fehlern ist die Notwendigkeit, die Abwärtsbewegung im U zu akzeptieren.
Hier sind einige Fragen, die uns die Theorie U einlädt zu betrachten:
- Berücksichtige ich den Standpunkt meines Gegenübers, wenn ich meine eigene Vision einer idealen Zukunft entwerfe?
- Nehme ich die anderen Akteur:innen in meinem Ökosystem ernst oder negiere ich ihre Position?
- Wird die Art und Weise, wie ich gegenwärtig arbeite, die Veränderung, die ich mir wünsche, aktiv begünstigen?
Im Kontext der Fehlerkultur steht die Abwärtsbewegung für den Prozess des Eingestehens und Verarbeitens von Fehlern. Sie ist geprägt von Unsicherheit und dem Loslassen von alten Denkmustern sowie dem Erkennen eigener Begrenzungen. Das ist nicht immer schön. Der Weg in die Tiefe des U (das „Tal der Tränen“) ist oft unangenehm.
Unternehmen, die an einer oberflächlichen Fehlerkultur festhalten, versuchen oft, diese Schritte abzukürzen. Statt Fehler zu analysieren und zu reflektieren, was der Fehler über ihre aktuellen Praktiken, Denkweisen und Strukturen aussagt, zeihen sie es vor, die Fehleranalyse auszuhebeln, indem sie Lösungen von anderen übernehmen.
Die physiologische Verankerung von Fehlern und alten Mustern
Unsere bisherigen, häufig erfolgreichen Verhaltensmuster sind nicht nur geistige Konzepte, sondern physiologisch verankert. Unser Gehirn speichert durch Erfahrungen und Wiederholungen Verhaltensweisen in Form von neuronalen Verbindungen ab. Dieser Prozess basiert auf der Bildung von Synapsen, die sich durch wiederkehrende Aktivitäten und Denkmuster in den neuronalen Netzwerken verstärken. Die neuronale Plastizität – also sowohl der Aufbau neuer Verbindungen und der Abbau alter Verbindungen – erfordert, das Neue zu probieren (mit allen Fehlern) und das Alte zu unterlassen. Der Körper braucht Zeit, um das Alte physiologisch abzubauen und das neue anzulegen. Die Abwärtsbewegung im U bedeutet daher auch, die körperliche Verankerung alter Muster anzuerkennen.
Fehler, die auf Verhaltensmustern basieren, sind also sehr stabil. Während diese Stabilität in vielen Fällen von Vorteil ist, wird es zum Problem, wenn wir uns verändern oder neue Wege gehen wollen – sei es auf persönlicher oder organisatorischer Ebene. Wir spüren, dass Veränderungen von Widerstand begleitet werden, da unser Körper buchstäblich an dem festhält, was ihm vertraut ist. Das bewusste Loslassen dieser Muster erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit uns selbst – und die Bereitschaft, sich dem Unbehagen zu stellen, das mit dem Verlassen vertrauter Denk- und Handlungsweisen einhergeht.
Ein effizienter Lernprozess im Gehirn braucht mehr als nur die ständige Wiederholung eines neun Verhaltens. Es braucht die hormonelle Belohnung durch Dopamin als Katalysator! Die wird aber nur spärlich kommen, wenn das Gehirn den Abschied vom Alten – in all seinen Phasen – nicht erhält. Auf der vermeintlichen Abkürzung kann man daher schnell im Stau stehen.
Neuronale Plastizität durch das Loslassen: Der Weg zur echten Fehlerkultur
Durch das bewusste Anerkennen, Akzeptieren und Durchleben der Abwärtsbewegung können wir beginnen, alte synaptische Verbindungen zu lösen und Raum für neue Muster zu schaffen. Neuronale Plastizität erfordert Wiederholung und Dopamin. Eine gute Fehlerkultur existiert nicht einfach von selbst in Unternehmen. Sie ist das Ergebnis eines bewussten Prozesses, der sowohl geistige als auch physiologische Aspekte einbezieht.
Dieser Prozess beginnt in der Führungsebene und muss dort auf jeden Fall vorgelebt werden. Der Mythos, dass Fehlerkultur ohnehin da ist, führt leider viel zu oft dazu, dass Organisationen sich in oberflächlichen Maßnahmen verlieren und das Potenzial des Lernens aus Fehlern nicht ausschöpfen.
Eine echte Fehlerkultur erfordert den Mut, sich dem Nicht-Können – der Abwärtsbewegung des U – wirklich hinzugeben. Es bedeutet, Fehler nicht nur zu akzeptieren, sondern auch die tiefe, körperliche Verankerung alter Muster zu erkennen. Otto Scharmer hat so gut herausgearbeitet, wie Veränderung passiert und was es auf den unterschiedlichsten ebenen braucht. Vor allem wird deutlich, dass erst durch die Akzeptanz und das vollständige Durchleben der „Abwärtsbewegung“ neue Erkenntnisse und innovative Lösungen entstehen können. Abkürzungen sind nicht sinnvoll!
Wenn du das für dein Unternehmen willst, musst du dies unbedingt verstehen. In der Umsetzung schaffst du nicht nur eine Atmosphäre der Offenheit und des Lernens, sondern legst auch den Grundstein für effiziente Veränderung.
Eine funktionierende Fehlerkultur ist also kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis eines bewussten, von Führungskräften und Mitarbeitern getragenen Entwicklungsprozesses. Sie erfordert den Willen, sich auf die Unannehmlichkeiten und Unsicherheiten des Lernens einzulassen und in die Tiefe zu gehen – mit dem Bewusstsein, dass Veränderungen im Körper und Geist stattfinden.